Wiederansiedlung der Europäischen Sumpfschildkröte
In der Roten Liste der gefährdeten Reptilien der Schweiz (Monney und Meyer, 2005) wird die Europäische Sumpfschildkröte als vom Aussterben bedroht eingestuft. Vor 2010 war in der Schweiz nur eine einzige grössere Population bekannt (Reservat Moulin-de-Vert, Genf), während zahlreiche, mehr oder weniger isolierte Individuen in der ganzen Schweiz beobachtet wurden. Die seither getätigten genetischen Analysen weisen darauf hin, dass die Genfer Population keine Individuen von 100%ig Schweizer Abstammung mehr enthält und dass die restlichen kleinen Populationen in der Schweiz von unterschiedlichster Herkunft stammen.
In diesem Rahmen wurde ein Projekt zur Wiederansiedlung der Sumpfschildkröte in 3 Schweizer Regionen gestartet: in der Region Genf, im Reservat La Vieille-Thielle (NE) und im Tessin.
Erste Ergebnisse zur Wiederansiedlung der Europäischen Sumpfschildkröte in der Schweiz
Wiederansiedlung in den Weihern von Prés-Bordon und Rappes (GE)
Die erste offizielle Wiederansiedlung der Europäischen Sumpfschildkröte fand am 11. Mai 2010 im Weiher Prés Bordon (Jussy) statt. Im 2010 wurden insgesamt 14 Individuen der Unterart Emys orbicularis orbicularis (mitochondrialer DNS Typ IIa) freigelassen und ihre Entwicklung wurde mittels Telemetrie überwacht. Im Juli 2011 folgte mit 8 Individuen im Weiher von Rappes, welcher 300m vom ersten Standort entfernt ist, eine zweite Freilassung.
Während sich die Tiere im ersten Jahr nach der Freilassung nur wenig fortbewegt haben, legten sie im darauffolgenden Jahr bereits grössere Distanzen zurück. Ein Individuum wurde sogar mehr also 600 m von seinem Freilassungsstandort entfernt wieder entdeckt.
Weitere Freilassungen fanden im 2016 und 2018 statt, sodass nun Tiere von unterschiedlichen Altersklassen und aus verschiedenen Aufzuchten am Standort sind. Diese zusätzlichen Freilassungen sollen die genetische Diversität erhöhen und dem Risiko einer Inzucht vorbeugen. Es werden dabei nur Tiere freigelassen, die genetisch sehr ähnlich zu den historischen Tieren sind.
Im 2017 wurden anlässlich der jährlichen Fangaktion, welche der Überwachung der Population dient, drei im 2016 in Freiheit geborene Jungtiere entdeckt. Dies bedeutet, dass an diesem Standort bereits eine natürliche Fortpflanzung stattgefunden hat!
Wiederansiedlung in den Weihern von "Teppes de Verbois" (GE)
Im Sommer 2017 wurden in einem weiteren, naturnahen Genfer Standort (Teppes de Verbois) 18 Europäische Sumpfschildkröten freigelassen. Dieser Standort ist optimal, damit sich die Populationen der Sumpfschildkröte erhalten und entwickeln können. Eine zweite Freilassung fand im Sommer 2018 satt, weitere werden in den nächsten Jahren folgen.
Wiederansiedlung in den Weihern von Rouelbeau (GE)
Der letzte Standort, an welchem eine Freilassung erfolgte, ist der Standort Rouelbeau im Gebiet Haute-Seymaz. Dieser Standort hat mit einem für die Europäische Sumpfschildkröte geeigneten Kanal eine Verbindung zu den Sumpfgebieten von Sionnet. Im Jahr 2020 wurden 8 Europäische Sumpfschildkröten im Stausee Rouelbeau freigelassen. Weitere Freilassungen werden in den nächsten Jahren folgen.
Wiederansiedlung im Reservat La Vielle-Thielle (NE)
Am 21. Mai 2013 ist die Sumpfschildkröte im Kanton Neuenburg wieder heimisch geworden. Während ältere Daten die Anwesenheit der Art in der Nähe der Thielle gegen Ende des 19. Jahrhunderts bezeugen, darf der Kanton mit den 10 freigelassenen Individuen diese Art nun wieder zu seiner Fauna zählen.
Wie bereits im Kanton Genf haben sich die Individuen im 2013 nur wenig fortbewegt. Im 2015 fand eine zweite Freilassung von 9 Tieren statt. Im 2019 wurden 13 weitere Individuen von einer anderen Aufzuchtstation freigelassen. Alle Tiere waren vorgängig analysiert worden, um genetisch möglichst ursprüngliche Tiere zu haben (Unterart Emys orbicularis orbicularis, mitochondrialer DNS Typ IIa).
Nachdem die Tiere in den ersten Jahren nach der Freilassung mittels Telemetriesender überwacht wurden, wird seither jährlich eine Fangaktion durchgeführt, um das Wachstum und die Überlebensraten zu überprüfen. Aktuell wachsen die Tiere gut und die ersten Eiablagen dürften bestenfalls in 2-3 Jahren zu erwarten sein, vermutlich in der neu aufgewerteten Anhöhe.
Wiederansiedlung im Tessin
Die ersten im Tessin dokumentierten Beobachtungen gehen auf den Beginn des 20. Jahrhunderts zurück. Die Tiere befanden sich damals entlang der Ufer der Seen Ceresio und Maggiore. Später wurde die Art seit den 1990er Jahren regelmässig in der Nähe des Naturschutzgebietes Bolle di Magadino (Locarno und Gambarogno) und in der Nähe von Colombera (Mendrisio) gesichtet, wo heute zwei kleine Populationen leben. Die Herkunft dieser Tiere ist nicht bekannt, aber genetische Analysen weisen auf Aussetzungen hin. Denn die Tiere auf der Alpensüdseite sind näher verwandt mit denjenigen aus Italien und gehören einer anderen Gruppe an (Emys orbicularis hellenica, mitochondriale DNS Typ IVa) als die Tiere auf der Alpennordseite. Ein Projekt zur Wiederansiedlung der Sumpfschildkröte im Tessin ist in Erarbeitung. Zu diesem Zweck wurde eine Aufzuchtstation auf den Brissago-Inseln aufgebaut.
10 Jahre Wiederansiedlung der Europäischen Sumpfschildkröte (Emys orbicularis) in der Schweiz
Der Status der Europäischen Sumpfschildkröte in der Schweiz wurde lange diskutiert. Derzeit gilt die Art in der Schweiz als heimisch und stark gefährdet (Rote Liste: vom Aussterben bedroht - CR). Die bisherigen Analysen deuten darauf hin, dass keine Population zu 100 % natürlich ist. Tatsächlich stammen die derzeit in der Schweiz beobachteten Individuen, entweder einzeln oder innerhalb von Populationen, höchstwahrscheinlich alle von entflohenen Tieren oder von früheren oder kürzlich erfolgten Wiederansiedlungen ab.
Seit 2010 haben in der Westschweiz mehrere Wiederansiedlungen stattgefunden, insbesondere in Genf und Neuenburg. Insgesamt waren diese Wiederansiedlungen ein Erfolg. Die Tatsache, dass am ersten Standort (Prè-Bordon, Genf) junge, in freier Wildbahn geborene Sumpfschildkröten beobachtet wurden, bestätigt, dass sich die Art in der Region Genf (und nicht nur im Reservat Moulin-de-Vert) fortpflanzt. Auch am Standort Neuenburg dürften in den nächsten Jahren die ersten Jungtiere zu sehen sein. Der Erfolg der anderen Wiederansiedlungen kann erst später beurteilt werden, doch scheinen alle Voraussetzungen für einen Erfolg gegeben zu sein. Tatsächlich sind alle Individuen, die in den Kantonen Genf und Neuenburg freigelassen wurden, deutlich gewachsen. Insgesamt wurden seit 2010 378 Tiere, darunter 229 Jungtiere, im Gebiet Plan-du-Rhône (Dardagny, Genf) freigelassen. Anhand dieser kann beurteilt werden, ob die Freilassung von Jungtieren effektiv ist.
Die verschiedenen Arbeiten der letzten Jahre zeigen, dass die Art an mehreren Orten in der Schweiz überleben und sich fortpflanzen kann. Karten der potenziellen Verbreitung, welche kürzlich erstellt wurden, können für die Definition geeigneter Gebiete für die Art genutzt werden. Ohne menschliches Zutun kann die Europäische Sumpfschildkröte die meisten geeigneten Standorte in der Schweiz allerdings nicht wiederbesiedeln. Zukünftige mögliche Wiederansiedlungsstandorte müssen in den durch GIS-Analysen ermittelten geeigneten Gebieten liegen, und zugleich auch geeignete Eiablageplätze aufweisen, naturnah bewirtschaftet und in einen Verbund förderlicher Lebensräume eingebunden sein. Die Standorte müssen durch das Steuerungskomitee des Projektes (COPIL) analysiert und von info fauna - karch bestätigt werden.
Die Sumpfschildkröte kann sowohl als Schirm-Art als auch als Flagship-Art verwendet werden, da sie in der Bevölkerung eine hohe Sympathie erfährt und sowohl vegetationsreiche und vielfältige Wasserlebensräume sowie in deren Nähe trockene Gebiete (Wiesen, Sanddünen) für ihre Fortpflanzung benötigt. Diese Lebensräume können durch den Einsatz der Sumpfschildkröte als Flaggschiff-Art neu geschaffen oder verbessert werden, während zahlreiche weniger charismatische Tier- und Pflanzenarten ebenfalls von diesen Lebensräumen profitieren.
Derzeit ist trotz der Freilassung von rund 378 Individuen die als heimisch zu betrachtende Sumpfschildkröten-Population sehr klein (sicherlich <200 Adulte) und besiedelt nur einige hundert Hektaren.
Detaillierte Informationen zu diesem Schutzprojekt der Europäischen Sumpfschildkröte in der Schweiz können Sie dem Bericht « 10 ans de réintroduction de Cistudes d’Europe en Suisse » entnehmen.
Publikationen
Kontakt
Sylvain Ursenbacher
Wissenschaftlicher Mitarbeiter: info fauna karch
Charlotte Ducotterd
Wissenschaftliche Mitarbeiterin: Neozoa, info fauna karch (speziell einheimische und exotische Schildkröten)